Born To Be Online

Mit zarter, transparenter Schrift

di Marina Agostinacchio/ Übersetzung von Kristine Biastoch

Francesca setzte sich im Bett auf. Sie führte ihre Hände zu den Augen und glaubte, mit dieser Geste das Licht des neuen Morgens in Besitz zu nehmen. Es war der Karfreitag des neuen Jahrtausends, und sie lag wieder allein im Ehebett, wie schon im Jahr zuvor und hatte sich damit abgefunden, Ostern in Mailand zu verbringen. In Wahrheit waren mit Francesca zwei Söhne geblieben, die ältesten; Aldo, der jüngste, liebte es, seinen Vater auf den Sonnenreisen, wie er sie nannte, zu den Großeltern nach Apulien zu begleiten. Marco und Giacomo eilten zum großen Bett ihrer Mutter, in dem riesigen Raum, den sie ohne die Verbote ihres Vaters Giulio, mit ihr teilen konnten. „Mama“, streckte Marco sich, „beeil Dich, was machst Du dort, wie verzaubert, träumst vor Dich hin. Auf mich warten noch die Proben der [Oster-]Riten“. Giacomo stieß ein merkwürdiges Miauen aus, ähnlich einem Kätzchen und sagte kleinlaut: „Komm, bereite eines Deiner reichhaltigen Frühstücke vor, wir übertreiben mal“. Aber in diesem Jahr war Francesca nicht mit Ihren Gedanken bei den österlichen Riten. Sie schleppte sich in die Küche und war in Gedanken bei Donnerstag. Sie ging die Szene durch, die sie erlebt hatte, fast so, als wäre nicht sie, Francesca, es gewesen, die den Entschluss gefasst hatte, die Einladung des Professors, des Dichters, an der Universität anzunehmen, um endlich über die Gedichte zu sprechen, die sie seit mehr als zwanzig Jahren schrieb; das Urteil ihres Dichter-Professors war der Grund, die Obsession ihres Lebens geworden. Der Espressokocher auf dem Herd, die heiße Milch in der Kanne, schäumend, die gelben Rosen, denen sie in bescheidener Menge fröhnte, Brotscheiben und Kekse „Reich mir die Marmelade – und Du, Mama, sag mir, ob es uns dreien nicht gut geht, vor allem ohne Schlafmütze, den Stubenhocker. Mama, was ist los mit dir? Du siehst aus, als wärst Du auf dem Mond!“ Francesca war, wenn nicht gerade auf dem Mond, so doch woanders. Der Raum weitete sich, als sie nocheinmal den Worten des Professors lauschte: „Das Gedicht auf dem blauen Hemd war für mich?“ „Nein, Professor, Sie haben intensive blaue Augen, geben Sie sich damit zufrieden“. Mit schwacher Stimme wiederholte Francesca jene Verse, die sie ein Jahr zuvor an ihren Mann geschrieben hatte, um, wenn auch nur in der Andeutung des Klanges, den Zauber zu suchen, der den nicht mehr jungen Mann ausgemacht hatte, der nach zwei Jahren überzeugt war, die Dinge, die sie schrieb und ihm brachte, mit Aufmerksamkeit zu lesen. – Und nun, da ich Dich in meinen Armen hatte, / kündigten Dich schon die Nächte an, /permanent im Jetzt, geschützt vor allen möglichen Abwehrmechanismen, / wie viele Meilen bis zur nächsten Galaxie, / ein Déjà-vu?/ Traum oder Berührung, im Halbdunkeln, / neu geboren, / Zwillinge einer im anderen, / Realität oder Irrealität, einerlei; / nur verdünnte Myrrhedämpfe, / duften auf den Körpern, / berührt und gefühlt. / Ich werde mich in den Vierteln des Mondes ausruhen / duftend nach Oleander und Bougainvilla / …. / Ab und zu werde ich eine Pause machen / um sicher zu sein, dass ich / in einem Vollmond aus Essenzen / aus Weihrauch und Lotus eintauche… / … Sie wiederholte diese Verse auf der Suche nach jenem Quid, das ihn dazu gebracht hatte, sie endlich zu „erkennen“; er, vor dem sie sich sie selbst fühlte, er mit seinem vertrauten Stil, seiner klaren Sprache, seinen unschuldigen blauen Augen. Ein Verb gab ihr ein Gefühl von Schwindel, ein Bild von unbestimmter Sinnlichkeit, – Es wird reichen / Dein blaues Hemd liegen zu sehen / zu den Gedanken, die gewachsen sind / mit den Gezeiten. / Sie werden keine Dämme halten / weder gegenüber der Gleichgültigkeit, noch der Trägheit; / Ich werde aus jeder meiner Himmelsrichtung von mir überfließen / sicher vor möglichen Katastrophen / aus Gewohnheit. Ich werde überlaufen, ich werde überlaufen – wiederholte sie sich immer lauter und schien sich eines Geheimnisses zu bemächtigen, eines Flügelschlags des Geistes dieses Mannes, der zwanzig Jahre und mehr zuvor berührt worden war. Francesca fühlte sich unzulänglich angesichts dieses unzugänglichen Traumes, der über die Jahre gewachsen war und in den Nischen ihrer Seele aufbewahrt wurde. Bei den Prüfungen war sie vor diesem weißhaarigen Herrn befangen und die Ergebnisse waren mittelmäßig gewesen. Es war Francescas Schuld, dass sie sich abmühte, diese vagen Intuitionen hervorzuholen, die Sensibilität, die sie leitete, um unmerkliche Erleuchtungen in den Dingen, die sie studierte, aufzuspüren. Francescas Schuld, weil sie nicht wusste, wie sie sich einbringen sollte, weil sie den Vulkan, den sie in sich spürte, nicht rauchen lassen wollte. Aber was war an jenem Donnerstag wirklich passiert, so schockierend? Der Telefontermin mit dem Professor war für 10 Uhr in seinem Arbeitszimmer angesetzt worden. Endlich würde er eine klare Meinung zu dem haben, was sie schrieb, und einige praktische Ratschläge zur Veröffentlichung geben. Sie ging mit ihm bis zum Büro. „Nun, Sie wollen eine Meinung zu den Gedichten“, sagte er und streckte seine Beine unter Francescas Stuhl aus, „das will ich tatsächlich; ich verfolge Sie seit zwei Jahren, aber ich scheine nirgendwo gelandet zu sein“. Nachdem er über das blaue Hemd nachgedacht hatte, ergriff der Professor die Hand der Dame, die auf Halbmast blieb, eine Dame aus dem achtzehnten Jahrhundert, in einem merkwürdigen Menuett von Phrasen, die sie geschickt umging: „Ich störe Sie…, ich scheine Sie zu belästigen…, wenn Sie nicht wollen, nehme ich die Hand von Ihrer“. Und Francesca „Aber nein, es ist die Hand eines Freundes, die man nicht ablehnen kann“. Also begann sie, um ihn abzulenken, über ihr Jahr in der Schule in einem Dorf in der Provinz zu erzählen. Der Dichter schien der Rede zu folgen, indem er sie direkt von den Lippen Francescas ablas, welche, mit der Hand in der ihren, die mal in der Luft schwebte, mal auf dem Tisch ruhte, eine leichte Verlegenheit verspürte, sich aber trotz allem wohl fühlte. Plötzlich sah sie auf die Uhr „Es ist Zeit für mich, nach Hause zu gehen“, und er, sie zur Tür begleitend „Werden wir uns wiedersehen?“ – Francesca reichte ihm die Hand und glitt die Treppe des Instituts hinunter. Der Dichter hatte ihr anvertraut, dass er binnen Tagen zu einer Tagung in die Vereinigten Staaten reisen würde. Diese Zeit brauchte Francesca, um zu versuchen, sich selbst zu entschlüsseln. Am Freitag schrieb sie, am Nachmittag – Lasst alles im Traum stattfinden, / hartnäckig bis zur Langeweile, / geschützt vor der wahren Flamme, / vor den Stunden, / die nicht mehr zu warten wissen,/ vor den zerknitterten Sätzen, / des Goldes, das glänzt,/ hier im Herzen. / Dass es ein Traum sei, / aus Düften des Gewürzstrauches, / Sich zeigend ohne bestimmte Vorankündigung, / am Rande eines Erwachens, / es war die letzte der Wetten, / pünktlich erneuert, / um sich von den Rückkehr, / der Last der alten Dinge zu befreien. / Ein Traum dauert geraume Zeit, / seufzend, weil ich nicht weiß, wie ich die Worte wiederholen soll. / Ich sitze im Zentrum meines Traumes, / und erwarte mich in irgendeiner Begebenheit, / die auch nur eine Minute dauern könnte, / um zu erscheinen /… Es folgten frenetische Tage des Schreibens ‒ ich werde mich von den Ereignisse treiben lassen, wie sie sich ergeben werden, wiederholte sie mit leiser Stimme, sich von den Gedanken distanzierend. Währenddessen umgab sie sich mit angenehmen Dingen, vor allem aber mit Worten, neue Bedeutungen suchend, die nie ans Licht kamen. Das Schreiben! Hier war die plötzliche Möglichkeit, die sich im Leben von Francesca auftat, die ihren Geist auslotete, die zu einem Strom von Blut wurde, zu einem radioaktiven Medikament, dass ihr die Möglichkeit bot, endlich die Spannungen, die Träume, die Sehnsüchte von Francesca zu erzählen, einer Frau, die an diesem privilegierten Ort, dem Schreiben, subtil, fast transparent hätte werden können… Selbst als sie glaubte, nichts mehr zu sagen zu haben, fand sie sich an einem warmen, sonnigen Morgen neben dem Schreibtisch sitzend wieder – Die Dichtung, die nicht wollte / keine Worte / konnte den Glauben nicht bewahren / an Versprechen die der Stille gemacht wurden. / Sie erschien mit der Sonne / welche die langen Finger des Regens auf den Fenstern gelöscht hat. / Es ist der Tag schon voll an Stunden / und die Worte – wie viele – / suchen einen Ausgang, um Dich zu suchen… Er, der Professor, hatte ihr unbewusst Klarheit gebracht, einen Mechanismus in Gang gesetzt, der nur darauf wartete, aktiviert zu werden; er, die Hand, die den Schlüssel dreht, die Raum gibt und in Bewegung setzt, die ein Wesen belebt, es zu jener Form des reinen Vergnügens, des geistigen und körperlichen Wohlbefindens erzieht, die das Schreiben gibt. Und mehr noch, die Dichtung als Gattung, die nun mit größerem und anderem Bewusstsein praktiziert wird, wurde Francesca dargeboten, ihrem Leben als kostbares Geschenk gegeben, das ihr helfen sollte, ihre existenziellen Leiden zu bewältigen –…Wie viele Jahre weg von mir in Frieden? / Ein Labyrinth aus gefüllten Bänden zu bewegen, Sofas, Möbel, Betten, Kleidung wechseln, Tischdecken zu färben. / Eine Ordnung, die nie erreicht wurde, in dem überlaufenden Glanz / des veredelten Staubes. / Böses, das ich in der Stille, des Bösen, züchtete / das in das Mauerwerk des Hauses sank; / das aus den Poren der Ziegel und des Kalks / zu den Kanälen des Wassers unter der Erde in den Körper eindrang. / Schwimmen in der Speiseröhre, die sich zur Welt zusammenzieht, / in den Brüsten mit dunklen Flecken für die Helligkeit der Herdplatte, / in den Muskelkontraktionen, die zwischen Mund und Herz schweben. / Noch immer lässt der Schmerz Dich lauschen / dieses langsame Pilgerbild /von bedauernswerten Zellen /… Der Professor kehrte aus Amerika zurück, aber Francesca war nur daran interessiert, den Zauber, der von diesem Treffen ausging, von allem anderen zu isolieren. In diesem Jahr dachte sie wieder über das nach, was mit ihr geschah, über die schwierigen Gleichgewichte, die sie zu halten lernte. In der Schule schrieb sie: „Von hier aus, auf dem Speicher, / in der Einladung der Liebe / verlängert – durch das Täubchen, / passen sich die Minuten an, ergeben sich, / dem Flug der Elster / der Ungewissheit der kleinen Möwe / auf der Esse. Ich lerne, das Leben zu desorganisieren / in der kodifizierten Halbordnung / von Gesetzen der Zärtlichkeit / die kein Absolutes / oder Unverzichtbares mehr kennen / [ein Blatt erleichtert
vom Gewicht sicherer Projekte / vom Glück des Verzichts]“.

Francesca schreibt weiterhin.

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